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„selbständig“ oder „selbstständig“ – ein alter Streit

Früher habe ich nicht darüber nachgedacht, dass das Wort selbständig auch mit zwei st geschrieben werden könnte. Bis zu jenem Tag in der germanistischen Sprachfertigkeitsklausur, die zwischen Grund- und Hauptstudium stand: Die Aufgabe bestand darin, einen Text zu korrigieren.

Plötzlich ein Blackout, Unsicherheit – stimmt selbständig? Oder heißt es nicht doch selbstständig? Auch das Hilfsmittel „Notieren und schauen, was korrekt aussieht“ half nicht. Tja, ich korrigierte selbständig in selbstständig und konnte das dann später immerhin als Anekdote aus der Rubrik „Geht’s noch peinlicher?“ verwenden. Lach nur.

Drei Jahre nach der Klausur wäre die Korrektur nur übereifrig, aber nicht mehr falsch gewesen. Schade überdies, dass ich damals nicht wusste, was ich heute weiß.

Ein Wort, drei Meinungen

Zur Schreibung des Wortes selbst(st)ändig sind im Wesentlichen zwei Positionen gängig:

1. An den Stamm selb- (den wir z. B. von selber kennen, der also durchaus noch existiert) wird ständig rangehängt, darum heißt es selbständig. Die seit 1996 zugelassene Form selbstständig ist eine weitere überflüssige Variante der neuen Rechtschreibung.

2. Bei diesem Wort wurden selbst und ständig zusammengesetzt, und deshalb schreibt man es am besten mit Doppel-st, also selbstständig. Das zweite st wurde ja nur weggelassen, weil es der Aussprache besser entspricht und weil sich stst vielleicht sperriger liest.

Lange nach meinem Klausur-Fauxpas stieß ich auf eine dritte Meinung, und die forderte mich heraus, der Sache genauer nachzugehen. Theodor Ickler behauptet in seinem Buch „Falsch ist richtig“ nämlich Folgendes: selbständig und selbstständig sind keineswegs orthographische Varianten, sondern zwei verschiedene Wörter. Älter ist das vom Stamm selb- gebildete selbständig, aber auch selbstständig war zu keinem Zeitpunkt falsch und hätte schon immer als eigenständiger Eintrag im Wörterbuch Platz finden müssen. Ebenso seltsam findet es Ickler, dass nach der Rechtschreibreform das ältere Wort vom Bann der sich modern wähnenden Anwender getroffen wurde.

Ich möchte wetten, dass Du eben dasselbe dachtest wie ich nach der Lektüre: Hö? Zwei Wörter? Und was bedeuten die dann jeweils? Diese Frage ist keinesfalls irrelevant, denn um zwei Wörter annehmen zu können, bräuchte man auch einen erkennbaren Bedeutungs- und Gebrauchsunterschied. Vielleicht sind sie Synonyme? Ich verwende den Begriff Wort (bzw. Wörter) ob der genannten Problematik im Folgenden in Anführungsstrichen.

Ein alter Streit in der Sprachwissenschaft

Die beiden „Wörter“ existierten tatsächlich lange Zeit nebeneinander. Und schon seit langem sind sie Gegenstand sprachwissenschaftlicher Meinungsverschiedenheiten. Zum Beispiel war man sich nicht einig darüber, welches Wort das ältere sei. Und natürlich das „bessere“. Das Grimm’sche Wörterbuch (ab 1838) favorisierte selbstständig. Grimm war nicht glücklich damit, dass sich die preußische Schulorthographie gegen selbstständig entschieden hatte; in den preußischen Rechtschreibregelungen war eine klare Entscheidung zugunsten von selbständig gefallen.

Auch im Duden wurde selbstständig früher nicht geführt – bis zur Rechtschreibreform von 1996, die die beiden „Wörter“ zu gleichberechtigten orthografischen Varianten erklärte.

Mein eigener Senf

Kein Wunder, dass sich Anwender mit der Auswahl von Varianten schwertun, wenn diese auch in der Sprachwissenschaft heißdiskutiert sind. Diese Unsicherheiten werden naturgemäß auch in die Wörterbücher mit hineingetragen. Ob Empfehlungen für eine Variante das probate Mittel sind, mit solchen Zweifelsfällen umzugehen, sei dahingestellt. Ich ziehe mir den Schuh als treuer Fan von selbständig natürlich genauso an.

Warum ich an selbständig so hänge? Der eine Grund ist leicht vermittelt: Ich will den Lesern kein zweites st vors Auge schmeißen, wenn’s nicht nötig ist. Das Weglassen des st stellt eine Leseerleichterung dar.

Der zweite Grund bewegt sich im Bereich des persönlichen Sprachempfindens: Viele der nichtsubstantivischen Zusammensetzungen mit selbst kann man im Regelfall erweitern und damit – mal besser, mal schlechter – paraphrasieren: Wer selbstverliebt ist, ist in sich selbst verliebt, wer selbstverantwortlich ist, zeigt sich für sich selbst verantwortlich. Und so weiter. Bei selbstvergessen funktioniert die Ersetzung nicht, es heißt nicht etwa, dass man sich selbst vergisst. Aber sogar hier kann man die beiden eigenständigen Wörter und ihren Bezug zueinander klar erkennen. Doch wie soll ich mir das bei selbst und ständig zurechtbiegen? Zumindest sehe ich einen deutlichen Unterschied zwischen den aus „selbst + anderes Wort“ gebildeten Zusammensetzungen und selbständig.

Egal, welcher Argumentation wir uns anschließen und für welches „Wort“ bzw. welche Form wir uns entscheiden, wir können zumindest nichts mehr falsch machen.

Weiter- und nachlesen

Ickler, Theodor: Falsch ist richtig. München 2006, S. 105 – 108

Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm online, Eintrag selbst (ein Projekt des Kompetenzzentrums für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier)

Dank

Wertvolle Anregungen zu den verschiedenen Positionen kamen von Dr. Olaf Krause, Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, und Professor Dr. Thomas Becker (†) von der Universität Bamberg.

Prof. Becker verdanke ich auch den Hinweis auf das Grimm’sche Wörterbuch und einige Informationen zum historischen Abriss dieses Artikels. Nicht alle konnten verwertet werden, aber alle waren hilf- und aufschlussreich.

Erstveröffentlichung am 10. November 2010 auf meiner alten Website „keine kuhhaut“. Für Dauleben überarbeitet und erweitert.